Der größte Bestseller aller Zeiten*. Wie Zahlen uns in die Irre führen

Sanne Blauw
 
Der größte Brstseller aller Zeiten

Beschreibung

von Ulrike C. Nikutta-Wasmuht
In seiner Rezension über das Buch „Expresso mit Archimedes“ schreibt Martin Skrodzki: „Wir alle müssen etwas von Politik verstehen, denn wir können bei Wahlen unsere eigene Zukunft beeinflussen. Entsprechend müssen wir alle etwas von Mathematik verstehen, denn wir benutzen sie direkt oder indirekt ständig und gestalten damit unser Leben.“ Und damit spricht er mir auch aus der Seele, wenn es um Statistik in der Öffentlichkeit geht. Warum?
In seinem Buch „Mankind in the Making“ schrieb der Schriftsteller H. G. Wells 1903 sinngemäß: „Statistical thinking will one day be as necessary for efficient citizenship as the ability to read and write.“ Dieser Satz wurde sehr häufig zitiert, insbesondere unter Statistikern. Ob er ganz genau das wiedergibt, was der Schriftsteller meinte, ist umstritten, aber eines steht fest: Der Satz stimmt! Jeden Tag werden uns Neuigkeiten, aktuelle wissenschaftliche Ergebnisse, Produktinformationen, politische Forderungen oder harte Bewertungen berichtet, die Daten in Form von Graphiken, Prozentangaben oder statistischen Parametern präsentieren. Auf den ersten Blick ist es schwer, richtig und falsch zu unterscheiden. Doch es gibt sie: Die politische Macht der Daten. Heute mehr als je zuvor. Deshalb kursieren in der Öffentlichkeit Forderungen wie „Wir brauchen Data-Literacy!“ Doch was ist das genau? Dazu gibt es allerdings keine klare Antwort, man hört stattdessen zuweilen wieder und wieder das abgedroschene Zitat: „Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast!“ Das würde ich umbenennen: Trau keiner Statistik, die du nicht selbst verstanden hast! Doch woher kommt das mangelnde öffentliche Verständnis von Statistiken? Es gibt viele Gründe dafür. Einer ist gewiss die häufige, falsche und verzerrende öffentliche Berichterstattung durch Journalist*innen und in der Folge von Politiker*innen.
Doch es gibt sie inzwischen, die Datenjournalisten und Datenjournalistinnen, die während ihres Studiums sich vertieft mit Statistik befassen und versuchen sich mehr und mehr in seriösen Publikationen durchzusetzen.
Die junge Autorin Sanne Blauw ist Datenkorrespondentin, die Ökonometrie und Journalismus studiert hat. Ihr Ziel ist Aufklärung über Zahlen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik, über den Einfluss, den Zahlen auf unser Leben haben. Ihr Buch fand in den Niederlanden große Beachtung und wurde zu einem Bestseller. Blauw interessiert sich für die Menschen hinter den Zahlen, die Zahlen sind „unschuldig“, schreibt sie. Und sie interessiert sich auch für die „Zahlenkonsumenten“, also uns alle, deren Leben von Zahlen beeinflusst wird, in dem was wir essen, was wir kaufen, was wir wählen, welche Versicherung wir abschließen. Und deshalb hat sie den Titel auch bewusst gewählt: Der größte Bestseller aller Zeiten*.
Blauws Buch hat sechs Kapitel, in welchen die Autorin sechs verschiedene Themen vertieft, die sie sehr fundiert recherchiert hat: Im ersten Kapitel „Zahlen können Leben retten“ schreibt sie über die berühmte Krankenschwester Florence Nightingale, die primär als die selbstlose, dienende Frau bekannt ist, die Soldaten im Krimkrieg das Leben gerettet hat – und lange Zeit für Frauen in der Tradition alter Rollenmuster als Vorbild diente. Doch das war nur eine Seite dieser mathematisch begabten Frau. Die andere Seite war ihr Durchsetzungsvermögen bei der britischen Regierung: Dort hatte sie erreicht, dass materielle und personelle Unterstützung geleistet wurde, um die todbringenden Hygienezustände in den Lazaretten zu beseitigen. Die damaligen behäbigen Behörden zu überzeugen gelang ihr nur aufgrund ihres 830 Seiten langen Berichts und der darin enthaltenen mit Grafiken versehenen Statistiken. Diese Grafiken hatte sie seinerzeit eigens entwickelt, sie sind heute unter dem Namen Polar-Area-Diagram bekannt. Aufgrund dieser Pionierleistungen wurde Nightingale als erste Frau überhaupt in die britische Royal Statistical Society aufgenommen, und sie wurde Ehrenmitglied der American Statistical Association.
Im zweiten Kapitel befasst sich die Autorin mit „Die dumme Diskussion über den Zusammenhang von Intelligenzquotient (IQ) und Hautfarbe“. Blauw analysiert nicht nur die Herkunft dieses Mythos, sondern macht sich auf die Suche nach aktuellen Werken, die diese Zahlen wieder aufgreifen und erneut vertreten:
  • prominent ist das Werk der Koautoren, des Politikwissenschaftlers Charles Murray und des Psychologen Richard Herrnstein „The Bell Curve“, ein viel beachtetes und viel gekauftes Buch im Jahre 1994,
  • der Bestseller „A Troublesome Inheritance“ des New-York-Times Journalisten Nicholas Wade von 2014 und
  • hierzulande das Buch von Thilo Sarrazin „Deutschland schafft sich ab“ aus dem Jahre 2010.
Es ist zwar klar, dass man rassistisch emotional motivierten Argumenten nicht mit kognitiv rational begründeten Gegenargumenten erfolgreich kontern kann, doch es ist interessant nachzuverfolgen wie die Anfänge dieses „Kausalzusammenhangs“ überhaupt „wissenschaftlich“ zustande kamen und bis heute beharrlich von einigen vertreten werden.
Drittes Kapitel: Wer kennt ihn nicht? Den Kinsey-Report über das menschliche Sexualverhalten schlechthin? Eifrig gelesen, viel zitiert und als richtig befunden. Blauw entlarvt die wissenschaftlichen Methoden dieses Berichts, deren Mängel zwar seit langem bekannt sind, die der Bekanntheit dieses Berichts aber keinen Abbruch getan haben. Beispielhaft nimmt die Autorin Stichprobenfehler, Inferenzfehler und die Nichtbeachtung des Non-Response-Problems auseinander. Doch am interessantesten ist die Datensammlung eines „Mr. Sex“. Als Quelle für Kinsey unentbehrlich, der behauptete die Informationen über viele unterschiedliche Facetten aus der Welt der Sexualität von vielen Befragten bekommen zu haben. Doch der ominöse Mr. Sex war Kinseys einzige Quelle qualitativer Befragungen ….
Das vierte Kapitel liest sich wie ein Krimi: Es geht um die Nachzeichnung der Manipulation von Daten und wissenschaftlichen Studien durch die amerikanische Tabakindustrie. Vieles ist noch in bleibender Erinnerung, aber die akribische statistische Beschreibung der Fakten durch die erfahrene Datenjournalistin Blauw fördert viele neue Facetten dieses Skandals zutage. Im Rahmen dieser Ausführungen illustriert die Autorin noch einmal die kleinen Aktivitäten, die Großes (in der öffentlichen Diskussion) bewirken können: Die Zahlen bleiben unverändert, aber die Skalierung nicht – so auch in der zum Teil unsäglichen Klimadiskussion. Wunderbar auch Kapitel fünf: In den Zeiten von Big Data wird häufig behauptet, „wer viel weiß, der weiß alles“. Die gute alte Statistik könne man getrost vernachlässigen, man müsse nur wissen, wie Big Data zu interpretieren seien. Eine längst überfällige Diskussion. Blauws Fazit: „Datenfehler passieren in allen Ländern: Falsche Adressangaben im Melderegister, fehlerhafte Einkommensinformationen beim Finanz- und Arbeitsamt, eine ungerechtfertigte Registrierung als Krimineller in der Polizeidatenbank – überall wimmelt es vor Fehlern. Es wäre also töricht, Zahlen blind zu vertrauen.“ Und am denkwürdigsten ist der Satz am Schluss dieses Kapitels: „Die Zahlen, die die Wirklichkeit wiedergeben sollten, haben die Wirklichkeit ersetzt.“
Im sechsten und letzten Kapitel resümiert die Autorin: Sie fordert die Zurückgewinnung unserer Selbstbestimmtheit, den kritischen Umgang mit sogenannten wissenschaftlichen Ergebnissen wie „Jedes zweite Glas Alkohol verkürzt Ihr Leben um 30 Minuten“ und – sie fordert zu eigener Recherche auf.
Dieses Buch war ein großer Gewinn für mich und ich kann es nur allen weiterempfehlen, die sich für Datenkompetenz (englisch: data literacy) einsetzen, aber auch jenen, die einfach ein spannendes Buch für das Sofa suchen ….
 

* mit diesem Titel
 

Bibliografische Daten

Autoren:Sanne Blauw
Titel:Der größte Bestseller aller Zeiten*. Wie Zahlen uns in die Irre führen
Verlag:Deutsche Verlags-Anstalt, München
ISBN:978-3-421-04853-0
Preis:20,00 €