Mathematischer Ort des Monats Dezember 2025
Tafel für Nikolaus Ludwig von Zinzendorf in der Lutherstadt
Wittenberg und der Herrnhuter Stern
von
Wolfgang Volk
Um es gleich vorwegzunehmen,
Nikolaus Ludwig Graf
von Zinzendorf und Pottendorf (1700-1760) war lutherisch-pietistischer autodidaktischer
Theologe, Reichsgraf, Sozialreformer, Prediger sowie Dichter zahlreicher Kirchenlieder.
Er war insbesondere weder selbst Mathematiker oder Vertreter eines verwandten Fachgebiets
noch sind mathematische Leistungen von ihm bekannt!
Die oben wiedergegebene Tafel, die sich in der Wittenberger Altstadt am Haus mit der Nr. 4
der Schloßstraße befindet [4, S. 135], bildet lediglich einen örtlichen
Bezug für ein Objekt, das recht verbreitet und somit bekannt ist und zu dem sich eine
mathematische Betrachtung lohnt.
N. L. von Zinzendorf studierte an der Wittenberger Universität Leucorea
(siehe auch [5]) in den Jahren von 1716 bis 1719 Rechtswissenschaft.
Dies ist aber eher dem Umstand geschuldet, dass seine Vorfahren Militärführer und
Regierungsbeamte waren. Auch er war von 1721 bis zum Jahr 1732 Hof- und Justizrat in Diensten
des sächsischen Kurfürsten August der Starke (1670-1733) in Dresden.
Vielmehr wurde er – weil sein Vater wenige Wochen nach seiner Geburt verstarb –
von seiner frommen Großmutter großgezogen, seine Schulbildung erhielt er in den Jahren
1710 bis 1715 am Pädagogium der 1698 gegründeten Franckeschen Stiftungen in Halle,
wo er sehr im Sinne des Pietismus ausgebildet wurde. In diesem Zusammenhang sah er seine
eigentliche Berufung in der Missionsarbeit [8].
Es wäre müßig hier die bewegte und bewegende Geschichte der
Herrnhuter
Brüdergemeine nachzuerzählen, wobei zu deren Entstehung die Wirren in der
Folge des Dreißigjährigen Kriegs (1618-1648), besagte Großmutter
(siehe [2, Menüpunkt Brüder-Unität > Geschichte]) und nicht zuletzt
wesentlich N. L. von Zinzendorf selbst beitrugen. Die Herrnhuter Brüdergemeine
ist eine eigenständige Glaubensgemeinschaft, die ihren Ursprung in Herrnhut in der
Oberlausitz hat. In verschiedenen, auch außereuropäischen Staaten, gibt es weitere
Gemeinden, die sich zu den Grundsätzen der Brüder-Unität
bekennen1). Herrnhut wie auch weitere Gemeinden
zählen inzwischen zum
UNESCO-Welterbe (siehe auch [1]).
Es ist allgemein bekannt, dass sich Glaubensgemeinschaften auch verstärkt um die
Bildung ihrer (und oft auch anderer) Nachkommen durch die Einrichtung (konfessioneller)
Schulen engagiert haben. So soll Anfang des 19. Jahrhunderts von einem Erzieher
zwecks Vermittlung eines besseren geometrischen Verständnisses im Mathematikunterricht der
erste Stern erdacht und aus Papier und Pappe gefertigt worden sein [3].
In den 1920er Jahren gründete die Herrnhuter Brüdergemeine eine eigene
Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) für die Produktion und der Vertrieb
von „Herrnhuter Sternen“ (zunächst) als Advents- und Weihnachtsdekoration.
Diese zur Brüder Unität gehörende Herrnhuter Sterne GmbH besteht
noch heute (siehe [3] und [7]).
Beim „Herrnhuter Stern“ handelt es sich um ein dreidimensionales Gebilde,
bei dem die Zacken des Sterns möglichst gleichmäßig in allen Richtungen
des Raums zeigen. Dabei spielt die Länge der Zacken zunächst einmal keine Rolle;
es sollte aber ein möglichst ästhetischer und harmonischer Gesamteindruck
entstehen.
Vor die Aufgabe gestellt, solch einen Stern zu entwerfen, wäre sicher ein naheliegender
Ansatz, einen
Platonischen Körper
als Korpus zu nehmen und diesen auf seinen identischen, ebenen Seitenflächen die Zacken
aufzusetzen, die je nach Form (regelmäßige) Dreiecks-, Fünfecks- oder
quadratische Pyramiden sind. Derartige Figuren haben bereits
Johannes Kepler (1571-1630)
untersucht und
Leonardo da Vinci (1452-1519)
für das von
Luca Pacioli (1445-1517) verfasste Buch
„De divina proportione“, das 1509 herausgegeben wurde, illustriert.
Allerdings ging es diesen Wissenschaftlern nicht darum, Adventsschmuck zu basteln, und
die Länge(n) der Zacken, war(en) an andere Bedingungen
geknüpft2).3)
Bekanntermaßen gibt es genau 5 Platonische Körper – die nach dem
Philosophen
Platon (ca. 428-ca. 348 v. Chr.) benannt sind.
Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sich ihre Oberfläche aus identischen regelmäßigen
Vielecken gleicher Art zusammensetzt und jede Ecke den anderen Ecken gleicht (die
Anzahl der [identischen] Vielecke, die sich in einer Ecke berühren, ist für alle Ecken gleich).
Auch gilt, dass alle Kanten gleich lang sind!
Eine gewisse Verallgemeinerung (es ist nicht die einzige) bilden die
Archimedischen
Körper – diese sind nach dem griechischen Mathematiker, Physiker und Ingenieur
Archimedes (ca. 287-ca. 212 v. Chr.)
benannt. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sich ihre Oberfläche ebenfalls aus
regelmäßigen Vielecken zusammensetzt, die jedoch nicht alle gleich sind, aber
die Ecken nach wie vor gleich aussehen4).
Zwangsläufig besitzen auch die Kanten der Archimedischen Körper stets alle die gleiche
Länge. Zu den Archimedischen Körpern zählt auch der
Rhombenkuboktaeder,
der den Korpus der Herrnhuter Sterne bildet. Dessen Oberfläche setzt sich aus 18
Quadraten und 8 gleichseitigen Dreiecken zusammen (vergleiche die Abbildung des
„Drahtmodells“ weiter oben).
Da die Flächengröße der soeben genannten (gleichseitigen) Dreiecke nur etwa 43% der
Flächengröße eines Quadrats ausmachen, werden die Zacken auf Ersteren
üblicherweise mit einer etwas geringeren Länge ausgestaltet, sodass das
Erscheinungsbild der Zacken zumindest vergleichsweise identisch erscheint. Oft ist der Zacken
(über einem Quadrat), der nach oben ausgerichtet ist, weggelassen, um hier die Aufhängung
und – bei beleuchteten Sternen – die Stromversorgung zu
installieren5) (siehe nachstehendes Bild).
Abschließend soll noch auf einen mathematischen Sachverhalt hingewiesen werden,
der nur sehr bedingt etwas mit Herrnhuter Sternen zu tun hat. Lange hat man diskutiert,
ob das unten abgebildete Polyeder, das Pseudo-Rhombenkuboktaeder, ebenfalls zu den
Archimedischen Körpern zählt. Es unterscheidet sich vom Rhombenkuboktaeder
lediglich dadurch, dass die untere Hälfte dieses Polyeders um 45° um die vertikale
Achse gedreht ist, die unteren Dreiecksflächen sind gegenüber den oberen versetzt.
Es erfüllt ebenfalls die oben genannten Bedingungen für Archimedische Körper.
Letztlich hat man sich dafür entschieden, diese Bedingungen strenger zu fassen, und das
Pseudo-Rhombenkuboktaeder als
Johnson-Körpern
(benannt nach dem US-amerikanischer Mathematiker
Norman Johnson
[1930-2017]) zu betrachten.
Referenzen
| [1] | Deutsche UNESCO-Kommission e. V.: Siedlungen der Herrnhuter Brüdergemeine | |
| [2] | Evangelische Brüder-Unität – Herrnhuter Brüdergemeine: Homepage | |
| [3] | Herrnhuter Sterne GmbH: Homepage | |
| [4] | Elke Strauchenbruch: WER WAR WO in Wittenberg? Wissenswertes zu 124 Gedenktafeln, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Drei Kastanien Verlag, Wittenberg, 2017, ISBN 978-3-933028-80-8 | |
| [5] | Wolfgang Volk: Tafeln für Giordano Bruno, Joachim von Lauchen, Kaspar Peuker und Johann Daniel Titius in der Lutherstadt Wittenberg | |
| [6] | Wikipedia: Herrnhuter Brüdergemeine | |
| [7] | Wikipedia: Herrnhuter Stern | |
| [8] | Wikipedia: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf |
Bildnachweis
| Tafel | Wolfgang Volk, Berlin, Juni 2025 | |
| Herrnhuter Stern | Wolfgang Volk, Berlin, März 2025 | |
| Herrnhuter Stern als Hausbeleuchtung | Wolfgang Volk, Berlin, März 2025 | |
| Drahtmodelle | Urheber: Tilman Piesk (Pseudonym: Watchduck), Quellen: Datei:Polyhedron small rhombi 6-8, davinci.png und Datei:Elongated square gyrobicupola, davinci.png. Nutzung gemäß Creative-Commons-Lizenz „Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 international“. Zwecks Datenreduktion wurden einzig die Dateien vom Bildformat PNG nach JPG konvertiert. |
1) So wurde auch Böhmisch-Rixdorf –
heute Teil des Berliner Stadtbezirks Neukölln – gegründet.
3) In Konkurrenz zum Herrnhuter Stern steht unter anderem
der
Marienberger Stern, der genau auf der
beschriebenen Idee basiert. Den Korpus bildet hier das
Dodekaeder, dessen Oberfläche sich
aus 12 regelmäßigen Fünfecken zusammensetzt.
4) Dies ist nicht die exakte Definition der
Archimedischen Körper, insbesondere werden drei Klassen von Polyedern
ausgeschlossen, insbesondere zählen die Platonischen Körper nicht zu den
Archimedischen. In dem Sinne ist der Begriff „Verallgemeinerung“ hier etwas
irreführend.
5) Bei einer Beleuchtung mit Kerzenlicht muss sich
selbstredend oben im Korpus ein ausreichend großes Loch befinden.




