Beitrag vom November 2015
Zeitzeugnis zur Berliner Mathematik nach 1945
Persönliche Eindrücke zu den Mathematik-Vorlesungen an der Humboldt-Universität nach Kriegsende
von Klaus Krickeberg
 
Im Sommer 1946 bewarben sich besonders viele Leute um einen Studienplatz für das Wintersemester 1946/47 an der Universität Berlin, die man schon damals oft „Humboldt-Universität“ nannte und die diesen Namen offiziell seit 1949 trägt. Es waren jüngere und ältere. Neben den „normalen“ Bewerbern gab es ja die zahlreichen Kriegsteilnehmer und Verfolgten, die manches Jahr verloren hatten. Sie genossen naturgemäß ein Vorrecht. Es war auch schon die Rede davon, Arbeiter- und Bauernkinder zu bevorzugen. Ich dagegen war erst 17 Jahre alt, nicht verfolgt, und stammte aus einer bürgerlich-akademischen Familie; mein Vater war Röntgenfacharzt und meine Mutter medizinisch-technische Assistentin. Ich hatte nicht einmal den obligatorischen „Trümmereinsatz“ aufzuweisen. Dennoch wurde ich gleich zum Studium der Physik zugelassen. Vielleicht lag es daran, dass ich mein Abitur „mit Auszeichnung“ bestanden hatte, als einziger unter 6 Abiturienten des Französischen Gymnasiums, die übrigens am 28.6.46 die ersten Reifeprüfungen nach dem Krieg in Berlin abgelegt hatten. Meine Immatrikulationsurkunde, unterzeichnet vom Rektor Johannes Stroux, ist vom 18.10.46 datiert.
Zum Physikstudium gehörte das Nebenfach Mathematik. Die Vorlesung „Differential- und Integralrechnung I“ von Erhard Schmidt faszinierte mich. Er begann sie mit den Worten „Zuerst müssen Sie alles vergessen, was Sie auf der Schule in der Mathematik gelernt haben.“ Nach dem 1. Semester vertauschte ich Haupt- und Nebenfach, belegte daneben aber auch die Einführung in die organische Chemie.
Erhard Schmidt, einer der ganz großen Mathematiker des 20. Jahrhunderts, war die überragende Gestalt in der Mathematik an der HU während dieser ersten Nachkriegssemester. Man erzählte, dass er, den das Kriegsende nach Hamburg verschlagen hatte, mit Pferd und Wagen (Züge fuhren noch nicht) nach Berlin zurückkehrte, um dort, obwohl schon über 70, seine Vorlesungen wieder aufzunehmen, da ja auch die Mathematik einige Dozenten verloren hatte. Sein Kurs ging über 6 Semester. Es waren die schönsten Vorlesungen, die ich je gehört habe, völlig aus dem Gedächtnis gehalten ohne auch nur einen Spickzettel. Sie waren lebendig und im Grunde geometrisch. Eine Projektion im Hilbertraum wurde mit den Händen veranschaulicht. Wenn er deutlich machen wollte, dass sich Punkte sehr weit von anderen entfernten, so sagte er "bis nach Timbuktu". Manchmal hörte er mitten in einem Beweis auf und fing noch einmal von vorne an, weil ihm ein besserer, oder, wie die Mathematiker sagen, „eleganterer“ eingefallen war. Er streute auch absichtlich kleine Fehler ein, um unsere Aufmerksamkeit zu testen und Widersprüche herauszufordern. überhaupt konnte man in allen Vorlesungen, nicht nur bei ihm, durchaus Fragen stellen und Bemerkungen machen. Schmidt war 1929/30 Rektor der Universität Berlin gewesen, hatte sich aber politisch nicht kompromittiert. Zu seinem 75. Geburtstag 1951, an dessen Feier ich teilnahm, hat ihm das Hans Freudenthal, ein jüdischer Mathematiker, der seit langem in den Niederlanden lebte, in seiner Festrede ausdrücklich bescheinigt.
Später kam ein weiterer weltberühmter Mathematiker, Helmut Hasse, nach Berlin, bei dem ich einen Vorlesungszyklus von 4 Semestern über Zahlentheorie hörte. Er war angeblich politisch etwas belastet gewesen. Daneben gab es Gastvorlesungen von hervorragenden westdeutschen Mathematikern (Friedrich Karl Schmidt, Konrad Knopp).
Auch Studenten der Mathematik meiner Generation aus Westdeutschland verbrachten einige Semester an der HU in der alten deutschen Tradition des Universitätswechsels, z. B. Martin Kneser und Peter Roquette, die später selbst sehr bekannt geworden sind.
In der Physik hatten wir in Berlin den bedeutenden Experimentalphysiker Christian Gerthsen, bei dem ich hörte und dessen Bücher immer noch verkauft werden. Er gab laufend gute Skripten heraus, zu denen ich oft schriftliche Kommentare lieferte, was ihm offensichtlich gefiel. Bekannt war auch der Mathematiker und Mechaniker Georg Hamel. Die Vorlesungen des Dozenten der organischen Chemie, Just, fand ich ebenfalls ausgezeichnet.
Im Grunde sah das Diplomstudium der Naturwissenschaften für die, die in den allerersten Jahren ab 1946 anfingen, genau so wie vor dem Krieg aus, (wie es bei den Staatsexamenskandidaten war, weiß ich nicht mehr). Es gab dieselben Grundvorlesungen, keine Zwischenprüfungen außer dem Vordiplom nach 4 – 5 Semestern, und schließlich die Diplomprüfung. Ich habe niemals eine politische Vorlesung besucht, obwohl es schon vorgeschrieben war. Mein Studienbuch stammte ebenfalls aus der Zeit vor 1946; die Staatsangehörigkeit „Deutsches Reich“ war vorgedruckt. Am 16.8.50 wurde ich exmatrikuliert.
Die materiellen Bedingungen waren natürlich schwierig. Die mathematischen Vorlesungen fanden zwar im Winter in geheizten Räumen statt, aber im Physikhörsaal bei Gerthsen herrschten im Winter 1946/47 manchmal –10°, was manche Experimente, die Wasser erforderten, ausschloss. Alle 20 Minuten machten wir eine „Trampelpause“ zum Aufwärmen. Am schlimmsten habe ich aber doch den Hunger empfunden. In der Mensa gab es bestenfalls eine wässrige Suppe mit undefinierbarem Gemüse ohne ein einziges Fettauge.
Dafür fand man unter uns Studenten und Studentinnen (letztere leider in der Minderzahl) enorm viel Enthusiasmus, Eifer beim Studium und Lust am Diskutieren. Die MAPHA (Mathematisch-Physikalische Arbeitsgemeinschaft) existierte noch und veranstaltete z.B. einmal einen Dampferausflug. Dabei bin ich bei Gerthsen ins Fettnäpfchen getreten, indem ich ihm erzählte, wie gut mir die Mathematikvorlesungen gefielen.
Als das Mathematische Institut nach einiger Zeit innerhalb des Hauptgebäudes in wieder hergestellte bessere Räume umzog, transportierten wir Studenten die ganze sehr umfangreiche mathematische Bibliothek. Wir bildeten eine lange Schlange durch Flure und über Treppen und warfen uns die meist ziemlich schweren Bände zu, eine sehr gute Gymnastik. Diese Bibliothek hatte den Krieg unversehrt überstanden und ist einer der großen Schätze der Humboldt-Universität. Sie enthält z. B. Zeitschriftenbände aus vielen Ländern, die mindestens bis ins 18. Jahrhundert zurückgehen. Sie hat mich später angeregt, zu meiner Dissertation einen dritten, ideengeschichtlichen Teil zu schreiben [1], was bei Mathematikern ganz ungewöhnlich ist.
Nach dem Vordiplom wurde ich im Oktober 1948 Hilfsassistent und hielt selbständig übungen zu verschiedenen Vorlesungen ab. Dadurch kannten mich die Studenten gut, und als 1949 die Studentenratswahlen nach der neuen Wahlordnung stattfinden sollten und ich in die große Wahlversammlung der Mathematik ging, schlug mich einer von ihnen als „zusätzlichen Kandidaten“ (zu den von der SED präsentierten) vor. Ich lehnte ab mit der Begründung, dass ich die Wahlordnung nicht anerkannte, was mir aber nicht geschadet hat.
In den Jahren danach erschien eine neue Generation von Studenten, deren übungsaufgaben ich korrigierte, darunter auch eine Gruppe von Leuten, die ganz die Linie der SED vertraten oder ihr auch angehörten. Ihr Mittelpunkt was Klaus Matthes. Man erzählte mir, dass er der Sohn eines berüchtigten Nazis war und sich „Nie wieder“ geschworen hatte. Diese Gruppe hat später in der Mathematik der DDR eine große Rolle gespielt und ist auch international bekannt geworden. Nach meinem Weggang von Berlin im Mai 1953 haben ihre meisten Mitglieder, durch einen Gastprofessor aus der Sowjetunion, Boris Gnedenko, angeregt, wissenschaftlich dieselbe Richtung eingeschlagen wie ich, so dass wir schon deshalb weiterhin viele Kontakte hatten, uns auf Tagungen in Ost und West trafen und uns gegenseitig einluden (sie waren „Reisekader“). So kam ich immer noch oft in die DDR. Auf einem Kongress in New York bat mich Matthes, bei seinem Vortrag in der ersten Reihe zu sitzen, um ihm notfalls mit dem Englischen zu helfen; es war aber nicht nötig. Wir haben auch politisch viel und ganz offen miteinander diskutiert.
Da Erhard Schmidt wegen seines Alters keine Diplomanden und Doktoranden mehr betreute, wählte ich Kurt Schröder als pro forma Betreuer der Diplomarbeit und als Doktorvater, obwohl wir über den Inhalt meiner Arbeiten nie auch nur ein einziges Wort gewechselt hatten. Das Thema hatte ich selbst gewählt; die Dissertation ging direkt aus der Diplomarbeit hervor. So wurde ich Diplommathematiker am 22.3.51 und promovierte am 9.4.52, unter dem Rektorat von Walther Friedrich. Dass Schröder Mitglied der NSDAP gewesen war, wusste ich übrigens nicht. Er war nett und umgänglich. Angesichts des Fehlens von Dozenten in gewissen Fächern (Wahrscheinlichkeitstheorie, Topologie) hatte er auch den Mut, die notwendigen Vorlesungen aus diesen Gebieten selbst zu halten, obwohl sie seinem eigenen Fach völlig fern lagen. Einmal habe ich eine Vorlesung von ihm über Topologie zum Abbruch gebracht, indem ich zu einem von ihm gerade „bewiesenen“ Satz ein Gegenbeispiel konstruierte. Er hat mir das nie übel genommen, was bezeichnend für das damalige hervorragende wissenschaftliche Klima in der Mathematik an der HU war.
Als die Gründung der Freien Universität vorbereitet wurde, fragte man auch mich, ob ich dorthin mitgehen würde, zumal ich in Westberlin (Reinickendorf) wohnte. Ich lehnte ab, weil ich der alten Humboldt-Universität treu bleiben wollte und weil mir die FU zu sehr ein politisches Unterfangen zu sein schien.
Noch vor dem Diplom, im Oktober 1950, wurde ich wissenschaftlicher Mitarbeiter der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin und dann im April 1951 Assistent am Mathematischen Institut der HU, dazu im Sommersemester 1952 und Wintersemester 1952/53 Lehrbeauftragter. Ein Teil meines Gehalts wurde also durch die „Lohnausgleichskasse“ in Westgeld umgetauscht.
Anfang 1953 erhielt einer der Mathematiker unseres Instituts, Hermann Ludwig Schmid, einen Ruf nach Würzburg. Mit amerikanischen Mitteln gründete er dort eine „Forschungsstelle“, was ihm erlaubte, eine Reihe junger Mathematiker, darunter auch mich, mitzunehmen. Die US Air Force transportierte sogar unsere Möbel einschließlich des Autos von H. L. Schmid. Es war eine reine „brain drain“ Operation. Immerhin hatte ich meine Assistentenstelle ganz regulär gekündigt und bekam vom Direktor des Instituts, Heinrich Grell, ein vom 28.5.53 datiertes nettes Abgangszeugnis.
Zurückblickend meine ich, dass das naturwissenschaftliche Studium (über die Medizin kann ich nichts sagen) an der HU in den ersten Jahren nach der Wiedereröffnung ein sehr hohes Niveau hatte. Das hat viel dazu beigetragen, die Kontinuität der Naturwissenschaften in Deutschland mehr oder weniger zu wahren. Zum Beispiel sind von meinen Kommilitonen in der Mathematik aus den ersten Studienjahren mindestens vier selbst ordentliche Professoren in Westdeutschland geworden. Diese hatten wieder bedeutende Schüler, die dann in der Wirtschaft, im Schulwesen oder im akademischen Bereich gewirkt haben. Von meinen eigenen Schülern haben sieben eine ordentliche Professur (C4-Stelle) an Universitäten innegehabt.
Was mir erst sehr viel später auffiel, ist die moderne Struktur des damaligen Mathematischen Instituts der HU. In den 60er Jahren war ja zunächst von einer Reform des veralteten „Lehrstuhl-Systems“ die Rede, in dem die Lehrstühle unabhängige Einheiten waren mit eigenen Assistenten, Sekretärinnen usw.; man wollte stattdessen „Departments“. Ich war zu der Zeit Lehrstuhlinhaber in Heidelberg und verstand zuerst überhaupt nicht, was das eigentlich bedeuten sollte, bis mir klar wurde, dass wir in Berlin in der Mathematik ja schon damals ein „Department“ gehabt hatten, nur dass es eben nicht Department, sondern Institut hieß. Fast alles gehörte dem Institut, nicht einem einzelnen Lehrstuhl. In Heidelberg war es ebenso, als ich 1958 dorthin berufen wurde, vermutlich schon seit langem. An der 1994 gegründeten Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld, an der ich jetzt mitarbeite, hat man dagegen im Grunde wieder das alte Lehrstuhlsystem, wenn auch unter anderem Namen.
 
Ich habe dies zur Ausstellung in der Humboldt-Universität zum 60. Jahrestag ihrer Wiedereröffnung nach dem zweiten Weltkrieg geschrieben. Dabei habe ich absichtlich fast keine Quellen benutzt und mich nur auf meine Erinnerungen gestützt. Ich danke Reinhard Siegmund-Schultze und Eberhard Knobloch für einige nützliche Bemerkungen.
 

Referenzen

[1]   Klaus Krickeberg: über den Gaußschen und den Stokesschen Integralsatz III, Mathematischen Nachrichten, 12 (1954), 341 - 365