Mathematiker des Monats April/Mai 2018
				Wolfgang Döblin alias Vincent Doblin (1915-1940)
				von 
					Sylvie Rœlly 
				
				Zusammenfassung
Der zweite Sohn Alfred Döblins, Wolfgang, war ein genialer Mathematiker aus Berlin, der im 
					Pariser Exil an der Sorbonne mit einer Arbeit zur Wahrscheinlichkeitstheorie promovierte. 
					Um seiner Gefangennahme als französischer Soldat durch die deutsche Wehrmacht zu entgehen, 
					nahm er sich 1940 in den Vogesen das Leben. Sein wissenschaftliches Vermächtnis wird im Jahr 
					2000 in einem versiegelten Umschlag aufgefunden und gilt als wissenschaftliche Sensation. 
					Sein berühmter Vater Alfred bezeichnete aber die Schriften seines Sohnes als Hieroglyphen.
				
				Lebensschritte
Wolfgang, auch Wolf genannt, wird 1915 in Berlin als zweiter Sohn von Alfred und Erna Döblin 
					geboren. Doktor 
					Alfred Döblin (1878-1957), 
					Neurologe und Schriftsteller, hat sich 1919 mit seiner Frau und seinen drei Kindern in der 
					Frankfurter Allee 340 im Bezirk Lichtenberg niedergelassen.
				
				In Berlin besucht Wolfgang das Königstädtische Reformrealgymnasium. 
					Da er sich als Jugendlicher sehr mit Politik beschäftigt, hört er ab 1931 
					spezielle Vorlesungen füer Schüler an der 
					Deutschen Hochschule 
					für Politik (DHP).
					Im April 1933 legt er das Abitur ab und folgt seiner Familie in die Emigration über 
					Zürich nach Frankreich. Sein Vater Alfred, als engagierter Linker und Jude bedroht, 
					war schon am Tag nach dem Reichstagsbrand auf Empfehlung des französischen Botschafters 
					in Berlin, André François-Poncet (1887-1978), nach Paris geflohen. 
					Insgesamt werden in den Jahren danach ungefähr 25.000 deutschsprachige Antifaschisten nach 
					Frankreich emigrieren.
				
				Die Familie Döblin wohnt in Paris bis 1940 unter der Adresse 
					5, square Henri-Delormel1). 
					Wolfgangs Neigung zur (mathematischen) Volkswirtschaftslehre führt ihn zur Mathematik. 
					In seinem Lebenslauf schreibt er 1933: „Ich beabsichtigte, an der Berliner Hochschule 
					für Politik zu studieren und das Diplom der DHP zu erwerben. Ich habe nun jetzt die Absicht, 
					Mathematik und Volkswirtschaft in Paris zu studieren, den Doktor rer. pol. zu machen und mich 
					auf Statistik zu spezialisieren.“
				
				In dieser Zeit blüht die französische Mathematik: Unter anderem lesen 
					Maurice Fréchet (1878-1973), 
					Émile Borel (1871-1956), 
					Jacques Hadamard (1865-1963) und 
					Paul Lévy (1886-1971) am 
					Institut Henri Poincaré.
				
				
				
				Wolfgang erlebt insbesondere die spannende Entfaltung der Wahrscheinlichkeitstheorie dank 
					Kolmogoroffs 
					neuer Axiomatisierung. Dieser veröffentlicht 1933 sein fundamentales Werk 
					„Grundbegriffe der Wahrscheinlichkeitsrechnung“. Fréchet ist daran so 
					interessiert, dass er Wolfgang darum bittet, Auszüge davon vom Deutschen ins Französische 
					zu übersetzten. Wolfgang braucht nur zwei Jahre, um sein Studium abzuschließen.
				
				Um seine finanzielle Unabhängigkeit von seinen Eltern zu sichern, hatte sich 
					Wolfgang – wie viele geflüchtete Kommilitonen, zum Beispiel 
					Ervin Feldheim (1912-1944) oder 
					Michel Loève 
					(1907-1979) – 
					für Kurse der Wahrscheinlichkeitsrechnung entschieden, die möglicherweise zu 
					sicheren Karrieren wie die eines Aktuars oder Statistikers führen. 
					Im Januar 1936 schreibt er sich als Doktorand der Mathematik bei Fréchet ein. 
					„Ich weiß nicht, ob ich mich mehr für die Wahrscheinlichkeitsrechnung als 
					für andere Zweige der Mathematik interessiere. Aber ich habe beschlossen, auf diesem Gebiet 
					zu arbeiten, da ich spüre, dass dies einer der großen zukunftsträchtigen Zweige der 
					Mathematik sein wird.“ 
					Er arbeitet autonom, schnell und extrem fruchtbar unter anderem über „Probabilités 
					en chaines“. Sein Doktorvater, dem er jede Woche neue Ergebnisse zeigt, ist überfordert! 
					Innerhalb eines Jahres hat er schon die meisten Resultate erreicht, die er 1937 und 1938 in 
					Bukarest und Athen veröffentlicht. Dank Fréchet, bekommt er ein Stipendium für 
					begabte Studenten. Sein Mentor, der berühmte Paul Lévy, bezeugt 1955: 
					„Man ist stets beeindruckt von seiner außergewöhnlichen Fähigkeit, 
					verschiedenartigste Probleme zu lösen, indem er sie direkt anpackte oder einen geschickten 
					Weg entdeckte. Ich glaube sagen zu können, um eine Vorstellung zu geben, auf welchem Niveau 
					er sich bewegt, dass man die Mathematiker an einer Hand abzählen kann, die seit 
					[Niels Henrik] Abel (1802-1829) und 
					[Evariste] Galois (1811-1832) so 
					früh gestorben sind und ein so bedeutendes Werk hinterlassen haben.“
				
				Wolfgang betrachtet aber seine eigenen Ergebnisse als relativ einfach und hat stets Angst, 
					dass andere Forscher vor ihm seine Ergebnisse veröffentlichen. Daher schickt er oft 
					seine Manuskripte und/oder Notizen an verschiedene Vertrauenspersonen, um seine Priorität 
					zu sichern.
				
				1937/38 organisiert er als junger Doktorand ein Seminar zur Theorie der Markov Prozesse mit 
					stetigen Werten. Borel, Inhaber des Lehrstuhls für Wahrscheinlichkeitsrechnung und 
					mathematische Physik, institutionalisiert dieses Seminar an der Sorbonne und nennt es 
					Séminaire de Probabilités. Bis heute hat dieses einen sehr guten Ruf.
				
				Im März 1938 verteidigt er seine Doktorarbeit, zu diesem Zeitpunkt hat er bereits fünf 
					Artikel und fünf Mitteilungen bei der Akademie veröffentlicht. Er ist Frankreichs jüngster 
					promovierter Mathematiker.
				
				Inzwischen erhielten im Oktober 1936 die Mitglieder der Familie Döblin die 
					französische Staatsbürgerschaft. Wolfgang nennt sich jetzt Vincent Doblin. 
					Er muss deswegen nach seiner Promotion zum zweijährigen Militärdienst. 
					Er wird als einfacher Infanteriesoldat zweiter Klasse eingezogen, da er eine Laufbahn als 
					Offizier ablehnt – er möchte keine Sonderbehandlung als Doktor haben.
				
				
				
				Die Mathematik mit ihrer abstrakten Sprache hilft ihm, sein Heimweh zu bekämpfen. 
					Er forscht weiter, alleine, in seiner wenigen Freizeit. Als der Krieg ausbricht, wird er als Funker 
					in den Ardennen stationiert.
				
				In seiner Kabine kann er sich zurückziehen und nachdenken. In den kalten Nächten des 
					Sitzkrieges schreibt er in einem Schulheft Beweisführungen seiner vorher angekündigten 
					Ergebnisse über die Kolmogoroffsche Gleichung auf.
				
				Wolfgang schreibt an Fréchet, dass er ein Manuskript in einem 
					versiegelten Umschlag an die 
					Académie des Sciences 
					in Paris geschickt hat, um es in Sicherheit zu bringen. Er wird, so schreibt er, die Arbeit daran 
					nach dem Krieg fortsetzen und seine Ergebnisse publizieren.
				
				
				
				Im Mai 1940 greift die deutsche Wehrmacht Frankreich an. Am Tag vor dem Waffenstillstand, 
					als Wolfgang mit seinen Leuten nach schweren Kämpfen in den Vogesen eingekesselt wird, 
					verbrennt er alle seine Papiere und erschießt sich dann in einem Bauernhof in Housseras.
				
				
				
				Er vermutet, die Deutschen würden ihn als Verräter behandeln und ihn gegen seinen, 
					von der Gestapo gesuchten Vater 
					ausspielen. Tatsächlich, hat sich die französische Regierung im 
					Waffenstillstandsabkommen 
					verpflichtet, alle von der Regierung des Reichs bezeichneten deutschen Staatsangehörigen, 
					die sich in Frankreich aufhalten, auf Verlangen auszuliefern.
				
				Als unbekannter Soldat wird Wolfgang inmitten deutscher und französischer Soldaten in 
					Housseras begraben. Erst im März 1945 erfahren seine Eltern von seinem Tod. 
					Seine Mutter Erna ist untröstlich. Die Eltern Döblin werden 1957 an der Seite ihres 
					Sohnes beigesetzt.
				
				Die Inschrift der Tafel lässt sich wie folgt ins Deutsche übersetzen:
				Alfred   
					DÖBLIN
Arzt und Literat
1878 – 1957
ruht hier mit seiner Gattin nahe bei
deren Sohn Vincent
für Frankreich gestorben
				Arzt und Literat
1878 – 1957
ruht hier mit seiner Gattin nahe bei
deren Sohn Vincent
für Frankreich gestorben
Die Inschrift am Grab lässt sich wie folgt ins Deutsche übersetzen:
				Vincent   DOBLIN
291-ste Infantrie Regiment
geboren am 7. März 1915 – gestorben für Frankreich
in Housseras – am 21. Juni 1940
				291-ste Infantrie Regiment
geboren am 7. März 1915 – gestorben für Frankreich
in Housseras – am 21. Juni 1940
Wolfgangs Œuvre umfasst dreizehn veröffentlichte mathematische Artikel und 
					dreizehn Mitteilungen an die Académie des Sciences. 
					Seine mathematischen Forschungsschwerpunkte sind 
					Markov-Ketten (insbesondere die 
					Kopplungsmethode), Markov-Prozesse mit Sprüngen und Diffusionen.
				
				Vater und Sohn: Unglückliche Missverständnisse trotz Parallelitäten
Folgende Gemeinsamkeiten von Vater Alfred und Sohn Wolfgang sollte man benennen:
				
				- Das Interesse an einer linksorientierten Politik sowie den tiefen Sinn zur Gerechtigkeit. Beide haben keine Furcht, ihre Meinung zu äußern. Wolfgang hatte insbesondere mal formuliert: „Ich habe das Recht, meine Meinung zu äußern, denn ich gehöre zu denen, die für ihre Ideen sterben können.“
 - Beide sind unabhängige Denker und Schöpfer.
 - Beide erleben in Paris eine echte Anerkennung der französischen Intellektuellen und der akademischen Welt: Wolfgang wird als vielversprechender Mathematiker von seinen Lehrern hoch geschätzt. Alfreds Werk Berlin Alexanderplatz wurde als Korpus der „Agrégation“ (Staatsexamen) für das Fach Deutsch im akademischen Jahr 1937/38 angenommen. Eine nationale Anerkennung!
 
Aber beide haben entgegengesetzte Temperamente, Lebensarten und Interessen. 
					Da die Person von Alfred Döblin vielen bekannt ist, beschränken sich die nachstehenden 
					Ausführungen auf Wolfgang: Er ist eher verschlossen und bewahrt seine geistige Welt. Er hat wenige Freunde und 
					steht Ausschweifungen zurückhaltend gegenüber. So schreibt er zum Beispiel im 
					November 1939 von der Front: „Da ich keinen Alkohol mag, habe ich nicht wie andere die 
					Möglichkeit, mich zu betrinken.“
				
				Alfred dagegen besitzt keinen Zugang zur Mathematik. „Ich persönlich habe ein 
					Problem mit der Mathematik.“, schreibt er, „In den oberen Klassen war ich in 
					Mathematik völlig ungenügend und habe ihretwegen zwei Jahre verloren. 
					Zur selben Zeit aber, als meine mathematische Unfähigkeit derart eklatant war, 
					schrieb ich meinen ersten Roman, und las Spinoza, Kant und Schopenhauer ohne jede 
					Schwierigkeit.“ Alfred ist voller Ressentiments und äußert seinen Ärger 
					über Wolfgang und dessen Passion: „Wolfgang, der unnahbare, der in den Wolken schwebt, 
					schreibt seine meilenlange Doktorarbeit in Hieroglyphen, welche wahrscheinlich im 
					ägyptischen Museum einen ersten Platz finden werden. Hebräisch ist gar nichts dagegen. 
					Er geht aber nicht zu einer anderen Schrift über. Da ist nichts zu machen. 
					Es ist eben Mathematik.“ (entnommen aus [3])
				
				Wolfgangs Tod ändert Alfreds Stimmung vollständig. Er macht sich Vorwürfe, 
					dass er seinen Sohn nicht genug geliebt habe. In einem Brief schreibt er im Jahr 1945 an Erna: 
					„In den letzten Jahren, näherte er sich mir langsam, er hing ja eigentlich nur an Dir, 
					aber ging mir nicht mehr so wie früher aus dem Weg, und ich hoffte, wir werden noch ganz 
					gut werden; und hoffte immer während des Krieges, er möchte noch am Leben sein, 
					damit zwischen uns alles gut würde, – nein ... Sein Ende hat mir einen 
					fürchterlichen Schmerz bereitet ...“
				
				Schicksale von Wahrscheinlichkeitstheoretikern im Umfeld von Wolfgang
Wie behandelten die Nazimachthaber 1933 die Mathematiker? Zunächst wird kurz die 
					Situation im Deutschen Reich skizziert und anschließend die in Frankreich.
				
				Ein Großteil der Mathematiker in Deutschland war jüdischer Abstammung und wurde im 
					April 1933 ihrer Ämter enthoben. Die nichtjüdischen Mathematiker, die als politische Gegner eingestuft wurden, 
					erfuhren dasselbe Schicksal. Weit über hundert Mathematikerinnen und Mathematiker verloren 
					ihre Anstellung, die meisten emigrierten, darunter große Namen wie 
					Richard Courant (1888-1972), 
					Emmy Noether (1882-1935), 
					Hermann Weyl (1885-1955). 
					Auch Wahrscheinlichkeitstheoretiker und Statistiker wie 
					Vilibald (William) Feller (1906-1970), 
					Hilda Geiringer (1893-1973), 
					Emil Julius Gumbel (1891-1966), 
					Richard von Mises (1883-1953) und 
					Abraham Wald (1902-1950) 
					waren von Entlassungen betroffen und emigrierten. 
					Als ein Minister den berühmten Prof. 
					David Hilbert (1862-1943) aus Göttingen 
					nach der Zukunft seiner Disziplin fragte, antwortete Hilbert: „Es gibt keine deutsche 
					Mathematikschule mehr!“
				
				In Frankreich standen die meisten Mathematiker politisch links, und waren aktive Antifaschisten. 
					Zum Beispiel war das Borel-Seminar in Paris während der gesamten Besatzungszeit ein Ort des 
					intellektuellen Widerstands. 
					Émile Borel selbst floh nach 
					Süd-Frankreich und spielte eine gewisse Rolle in der Résistance. Im besetzten 
					Frankreich wurden Beamten mit Judenstatus nach dem Gesetz vom 3. Oktober 1940 von der 
					Vichy-Regierung entlassen. 
					Es traf acht naturwissenschaftlische Professoren aus Pariser Hochschulen. Davon wurden zwei in 
					Konzentrationslagern ermordet.
				
				
				
				Der Mentor von Wolfgang, 
					Paul Lévy, Professor an der 
					École Polytechnique, 
					aus dem wohlintegrierten, gehobenen Mittelstand, will trotz seines jüdischen Hintergrunds 
					nicht glauben, dass er in grosser Gefahr ist. Er wundert sich, als er im Dezember 1940 seines Amtes 
					enthoben wird. Ab 1942 muss Paul Lévy untertauchen. Die Gestapo vandalisiert seine 
					Wohnung. Viele Dokumente werden vernichtet, insbesondere seine Korrespondenz mit Wolfgang. 
					Lévy lässt sich nun Paul Lengé nennen, flieht in die italienische Zone und 
					rettet sich auf diese Weise. Nach dem Krieg kann er 1945 wieder seine Professur bekleiden. 
					Paradoxerweise ist dieser Lebensabschnitt von Paul Lévy einer der 
					mathematisch fruchtbarsten – er beweist fundamentale Eigenschaften der planaren 
					Brownschen Bewegung, unter anderem ihre konforme Invarianz.
				
				Ervin Feldheim, in Ungarn geboren, kommt im Jahre 1931 nach Paris, um Mathematik zu 
					studieren. Als Kommilitone von Wolfgang freundet er sich mit ihm an und ermutigt ihn, sich bei 
					der Vorlesung über Wahrscheinlichkeitstheorie von Émile Borel und 
					Georges Darmois (1888-1960) anzumelden. 
					Mit einem „Licence“-Abschluss kehrt er nach Budapest zurück, und forscht dort 
					mit Erfolg weiter, was seine Korrespondenz mit Lévy bezeugt. 1942 wird er von den Nazis 
					ein erstes Mal festgenommen und deportiert. Dann wird er 1944 nach Serbien deportiert und ermordet.
				
				In den Jahren 1909 bis 1919 ist Richard von Mises (1883-1953) ein begabter Professor für 
					Wahrscheinlichkeitstheorie an der (zu dieser Zeit deutschen) Universität  Straßburg. 
					Danach wirkt er in Berlin. In den dreißiger Jahren wurde er als Gast in Paris empfangen. 
					Wolfgang hätte ihn vortragen hören können.
				
				Wegen seiner jüdischen Herkunft emigriert von Mises 1933 zunächst nach 
					Istanbul, und dann 1939 mit seiner zukünftigen Frau, der Mathematikerin Hilda 
					Geiringer, in die USA, wo sie lebenslang blieben.
				
				Aus seinem türkischen Exil veröffentlicht er 1934 in einer sowjetischen Zeitschrift 
					einen bemerkenswerten Artikel in französischer Sprache: „Problème de deux races“. 
					Oberflächlich betrachtet, ist der Artikel eine detaillierte mathematische Analyse des 
					theoretischen Problems des Vergleichs der Verteilungen eines quantitativen Merkmals in zwei 
					verschiedenen Klassen. Aber als Anwendung kritisiert von Mises die Nazi-Rassendoktrin, 
					indem er statistische Argumente satirisch benutzt: „In einem europäischen Land, 
					das ungefähr 65 Millionen Einwohner besitzt, ist die Bevölkerung zwischen zwei 
					Rassen A und B mit relativer Größe 0,9% und 99,1% verteilt. 
					Ein ganz kleiner Anteil dieser Einwohner forscht im Bereich der Physik oder der Chemie. 
					Man kann annehmen, dass die wissenschaftliche Qualität einer Gruppe von Forscher sich anhand 
					der Anzahl ihrer Nobel-Preisträger messen lässt. Die Liste der Preisträger dieses 
					Landes zwischen 1901 und 1933 enthält 27 Namen, daraus 5 aus der Klasse A. ... 
					Schlussfolgerung: Mit einer Wahrscheinlichkeit von 85%, ist die Chance, einen hochtalentierten Physiker 
					oder Chemiker innerhalb der Klasse A zu finden, wenigstens 20 mal höher als in der 
					Klasse B.“
				
				Der versiegelte Umschlag 11-668 wird im Jahr 2000 geöffnet
Das Verfahren des Pli cacheté (des versiegelten Umschlags) der 
					Académie des Sciences in Paris dient dazu, nicht veröffentlichte wissenschaftliche 
					Werke urheberrechtlich zu schützen. Nur der Autor selbst kann sich seine eingesendeten Werke 
					abholen. Im Todesfall können die Erben die Öffnung des Umschlags verlangen. 
					Sollten sie dies nicht veranlassen, so ist die Akademie verpflichtet, den Umschlag 100 Jahre nach 
					dessen Eintreffen zu öffnen.
				
				
				Nach dem Krieg geriet der Pli cacheté von Wolfgang Döblin in Vergessenheit. 
					Fréchet steht unter Schock, nachdem seine Frau von einem amerikanischen Militärlastwagen 
					überfahren wird. Er kümmert sich nicht recht um Wolfgangs Nachlass und vergisst 
					den versiegelten Umschlag. 
					Lévy, trotz seiner Bewunderung für Wolfgang, ist hauptsächlich 
					mit seiner eigenen Forschung beschäftigt. Erst 1991 entdeckt der Pariser Mathematiker 
					Bernard Bru, bei der Vorbereitung der mathematischen Tagung Fifty years after Doeblin: 
					Development in the Theory of Markov Chains, Markov Processes and Sums of Random Variables 
					die Existenz des Pli cacheté. Die Brüder Klaus und Stefan Döblin erlauben 
					die Öffnung des Umschlags jedoch erst im Mai 2000 – 60 Jahre nach seinem Eintreffen.
				
				
				
				Es geriet zu einer wissenschaftshistorischen Sensation, nachdem das Schulheft von Bernard Bru und 
					dem Akademiker 
					Marc Yor entschlüsselt und als 
					bahnbrechend erkannt wurde: Döblin versucht, die Fundamente eines Gebiets zu legen, 
					das wir heute als stochastische Analysis bezeichnen. Zunächst beschreibt er 
					pfadweise die Bewegung eines Teilchens, das sich zufällig auf einer Geraden bewegt. 
					Er vergleicht diese diffundierende Bewegung mit einer Brownschen Bewegung, 
					die man zu einer zufälligen Zeitskala betrachten würde. Dann entwickelt er in 
					seinem Manuskript eine erste Version des stochastischen Differential- und Integralkalküls, 
					in der er die zufällige Trajektorie der Diffusion unter einer glatten Funktion transformiert. 
					Dieser Hauptsatz der stochastischen Analysis wurde später unabhängig von 
					Döblin von dem japanischen Mathematiker 
					Kiyoshi Itô (1915-2008) 
					in den vierziger Jahren weiterentwickelt und wird heute als Itô-Formel bezeichnet. 
					Der berühmte Pli cacheté wurde als Spezialband Nummer 331 der 
					Comptes Rendus de l’Académie des Sciences de Paris vollständig im 
					Dezember 2000 mit Anmerkungen veröffentlicht.
				
				Die Resonanz dieser Ereignisse in der Öffentlichkeit ist seitdem groß. 
					Zwei Dokumentarfilme wurden gedreht (von Ellinghaus & Ferry und von Handwerk & Willems), 
					ein Buch von Marc Petit wurde auf Französisch und auf Deutsch veröffentlicht, 
					viele Seminare wurden organisiert. Es gab insbesondere im November 2007 in Berlin eine gemeinsame 
					Erinnerungsveranstaltung der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der 
					Académie des Sciences de Paris, Academies meet genannt.
				
				Die späte Wiedergeburt der genialen mathematischen Ideen von Wolfgang Döblin erzeugte 
					eine noch breitere und tiefere Entwicklung der von ihm gefundenen Methoden und wurde Quelle neuer 
					mathematischer Inspiration. Wolfgang wollte Volkswirtschaft studieren, um Politik besser zu 
					verstehen. Heute ist „sein“ stochastisches Kalkül unter anderem die international 
					anerkannte Sprache der Mathematisierung der quantitativen Finanzmathematik.
				
				Referenzen
| [1] | Brigitte Bergmann, Moritz Epple (Hrsg.): Jüdische Mathematiker in der deutschsprachigen akademischen Kultur, Springer Verlag, Berlin - Heidelberg, 2009 | |
| [2] | Bernard Bru: La vie et l’œuvre de W. Doeblin (1915-1940) d’après les archives parisiennes, Mathématiques et sciences humaines 119 (1992), S. 5 - 51 | |
| [3] | Alfred Döblin: Schriften zu Leben und Werk, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 1926 | |
| [4] | Alfred Döblin: Schicksalreise: Bericht und Bekenntnis, Joseph Knecht, Frankfurt am Main, 1949 | |
| [5] | Peter Imkeller, Sylvie Rœlly: Die Wiederentdeckung eines Mathematikers: Wolfgang Döblin, Mitteilungen der DMV 15.3 (2007), S. 154 - 159 | |
| [6] | Paul Lévy: Quelques aspects de la pensée d’un mathématicien, A. Blanchard, Paris, 1970 | |
| [7] | Marc Petit: L’équation de Kolmogoroff. Vie et mort de Wolfgang Doeblin, un génie dans la tourmente, Ramsay, Paris, 2003 | |
| [8] | Reinhard Siegmund-Schulze: Mathematicians fleeing from Nazi Germany, Princeton University Press, 2009 | |
| [9] | Wikipedia: Waffenstillstand von Compiègne (1940) | 
Bildnachweis
| Porträt mit Formel | Bezug auf das Bildmaterial zur Seite http://www.kinowerkstatt.de/index.php?p=archiv&id=181 | |
| Erna und Wolfgang | Bezug auf das Bildmaterial zur Seite http://www.alfred-doblin.com/photos-archive-alfred-doblin/ | |
| Briefmarke | Scan der Briefmarke mit 300dpi | |
| Institut Henri Poincaré | Bezug auf das Bildmaterial zur Seite http://en.insmi.math.cnrs.fr/node/11 | |
| Funker | Bezug auf das Bildmaterial zur Seite http://www.afhalifax.ca/magazine/wp-content/sciences/AllianceFrancaiseHalifax_Doeblin.html | |
| Académie des Sciences | André Zessin, 2017 | |
| Scheune, Gedenktafel und Grabstätte | Bezug auf das Bildmaterial zur Seite https://www.2c2r.fr/housseras/associations | |
| Paul Lévy | Konrad Jacobs, das Bild ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Germany-Licenz | |
| Notizen | Bezug auf das Bildmaterial zur Seite http://www.bpi.fr/la-lettre-scellee-du-soldat-doblin | 
1) Die Adresse ist in französischer 
					Notation wiedergegeben 
				
				
				
				









