Mathematiker des Monats August 2019
Georg Cantor (1845-1918)
von Eberhard Knobloch
 
Georg Cantor
Georg Cantor
 
Im 19. Jahrhundert befreiten sich die Mathematiker von den verschiedensten, bis dahin geltenden Einschränkungen. Verknüpfungen müssen nicht notwendig vertauschbar sein. Räume müssen nicht notwendig dreidimensional sein. Es gibt nicht nur die eine, die euklidische Geometrie. Vor allem: Mengen müssen nicht notwendig endlich sein. Es war Georg Cantor, der die Theorie der unendlichen Punktmengen gegen erhebliche Widerstände begründete und 1883 die großartige Feststellung traf: „Das Wesen der Mathematik besteht gerade in ihrer Freiheit.“
Denkmal in Halle-Neustadt
Denkmal in Halle-Neustadt, mit dem unter anderem Georg Cantor gewürdigt wird1)
 
Er wurde in Sankt Petersburg am 19. Februar 1845 nach dem dort noch gültigen julianischen, nicht reformierten Kalender geboren. Nach der in Russland am 1. Februar 1918 erfolgten Umstellung auf den gregorianischen Kalender war Cantors Geburtstag der 3. März. Seine drei jüngeren Geschwister kamen später auf die Welt. Seine Mutter Marie Böhm stammte aus einer Künstlerfamilie, sein Vater Georg Woldemar Cantor war ein wohlhabender, erfolgreicher Kaufmann.
In Sankt Petersburg ging Cantor lediglich in die Elementarschule. 1856 zog die Familie wegen eines Lungenleidens des Vaters nach Frankfurt am Main. Cantor sollte dem Wunsche des Vaters entsprechend Ingenieur werden. Daher besuchte er in Darmstadt die Realschule, wo auch Latein gelehrt wurde. Im September 1860 erhielt er das Abgangszeugnis. An der Höheren Gewerbeschule, der heutigen Technischen Universität Darmstadt, absolvierte er die beiden je einjährigen Kurse der allgemeinen Klassen, die als Vorbereitungsschule für ein Studium an einer der fünf Fachabteilungen diente. Die Abschlussprüfung legte er am 18. August 1862 ab. Im Mai dieses Jahres hatte ihm der Vater gestattet, das angestrebte Mathematikstudium aufzunehmen.
Deshalb unterzog sich Cantor im Herbst 1862 der Reifeprüfung und begann sein Studium an der Universität Zürich. Er setzte es ab 1863 in Berlin fort. Das Sommersemester 1866 studierte Cantor an der Universität Göttingen, kehrte danach aber wieder nach Berlin zurück. Seine Lehrer waren vor allem Friedrich Arndt, Leopold Kronecker, Ernst Eduard Kummer und Karl Weierstrass.
1867 promovierte er mit der zahlentheoretischen Arbeit „De aequationibus secundi gradus indeterminatis“ (Über unbestimmte Gleichungen zweiten Grades) bei Kummer und Weierstrass. Latein war damals noch die verbindliche Wissenschaftssprache. Ein Jahr später bestand er die Staatsprüfung für das höhere Lehramt, war jedoch nur rund zwei Monate als Lehrer tätig, wahrscheinlich am Friedrich-Wilhelms-Gymnasium.
Auf die Berliner Zeit geht seine lebenslange Freundschaft mit Hermann Amandus Schwarz zurück. Schwarz war 1867 auf ein Extraordinariat in Halle berufen worden, jedoch schon 1869 auf ein Ordinariat in Zürich. Cantor hoffte, das freigewordene Extraordinariat in Halle zu erhalten und habilitierte sich deshalb dort 1869 mit einer weiteren zahlentheoretischen Arbeit „De transformatione formarum ternariarum quadraticarum“ (Über die Transformation quadratischer ternärer Formen).
Tafel am Wohnhaus
Tafel am Wohnhaus in der Händelstraße in Halle an der Saale2)
 
Tatsächlich wurde Cantor zum Extraordinarius ernannt, aber erst 1872 und zunächst ohne Gehalt. Dies wurde ihm schließlich ein Jahr später bewilligt. Daraufhin heiratete er 1874 die musikalische Vally Guttmann. Es wurde eine Ehe, aus der sechs Kinder hervorgingen. Fünf Jahre später wurde Cantor in Halle ordentlicher Professor. Zu der von ihm erhofften Berufung an die Berliner Universität kam es nicht. Er starb am 6. Januar 1918 in Halle.
Grab Georg Cantors
Grabstätte der Familie Cantor auf dem Friedhof Giebichenstein
 
Nach seinen frühen Arbeiten zur Theorie der reellen Zahlen und über Zahlsysteme lernte Cantor 1872 in der Schweiz den Braunschweiger Mathematiker Richard Dedekind kennen. Dedekind wurde zum wichtigsten Briefpartner, als Cantor begann, unendliche Mengen zu untersuchen. 1873 teilte er Dedekind seinen Beweis mit, dass sich die Menge der positiven reellen Zahlen, die kleiner als Eins sind, nicht umkehrbar eindeutig auf die Menge der natürlichen Zahlen abbilden lässt, ein Ergebnis, das er Weierstrass Ende 1873 in Berlin mitteilte. 1874 erschien die entsprechende Arbeit. Man konnte also zwischen verschiedenen Unendlichkeiten unterscheiden. Cantors leitende Ideen waren die der transfiniten Ordinalzahl und die der Kardinalzahl.
1877 ließ er Dedekind seinen Beweis wissen, dass das Einheitsquadrat und das eindimensionale Kontinuum gleichmächtig sind. Der betreffende Aufsatz wurde mit zeitlicher Verzögerung 1878 veröffentlicht, vermutlich auf Grund von Kroneckers Einfluss. Kronecker wurde zum entschiedenen Gegner der Cantorschen Mengenlehre, eine Entwicklung, unter der Cantor stark gelitten hat.
In den Jahren 1879 bis 1884 erschien Cantors Hauptwerk, die Aufsatzfolge „Über unendliche lineare Punctmannichfaltigkeiten“, in den Jahren 1895 bis 1897 seine „Beiträge zur Begründung der transfiniten Mengenlehre“. Inzwischen war es zur Gründung der Deutschen Mathematiker-Vereinigung gekommen und Cantor zu deren ersten Vorsitzenden gewählt worden.
Der Beweis des Wohlordnungssatzes gelang ihm nicht, ebenso wenig wie die Lösung des Kontinuum-Problems. Diese Aufgaben wurden erst 1904 durch Ernst Zermelo bzw. 1963 durch Paul Cohen gelöst. Ähnliches gilt von den mengentheoretischen Antinomien, deren erste Cesare Burali-Forti 1897 veröffentlichte. Die vielleicht schönste Würdigung des Cantorschen Werkes – im Bewusstsein der Schwierigkeiten, die die Mengenlehre bot – gab David Hilbert 1926: „Aus dem Paradies, das Cantor uns geschaffen, soll uns niemand vertreiben können.“
 

Referenzen

[1]   Joseph Warren Dauben: Georg Cantor: His Mathematics and Philosophy of the Infinite, Harvard University Press, Cambridge (Mass.) - London, 1979
[2]   Eberhard Knobloch: Wahrheit und Freiheit in der Mathematik: Nichteuklidische Geometrien im 19. Jahrhundert, in: Jürgen Renn (Hrsg.): Albert Einstein, Ingenieur des Universums – Hundert Autoren für Einstein, Wiley-VCH Verlag, Weinheim, 2005, 94-97, ISBN: 9783527405794
[3]   Herbert Meschkowski: Georg Cantor, Leben, Werk und Wirkung, BI-Wissenschafts-Verlag, Mannheim - Wien - Zürich, 1983, ISBN: 9783411016532
[4]   Walter Purkert und Hans-Joachim Ilgauds: Georg Cantor (1845-1918), Birkhäuser, Basel - Boston - Stuttgart, 1987, ISBN 9783034874113
 

Bildnachweis

Porträt   Das Bild ist gemeinfrei – Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/0/0e/Georg_Cantor_%28Portr%C3%A4t%29.jpg/568px-Georg_Cantor_%28Portr%C3%A4t%29.jpg.
Denkmal, Tafel und Grab   Wolfgang Volk, Berlin (siehe auch Denkmal für Georg Cantor in Halle, Gedenktafel am Wohnhaus von Georg Cantor in Halle und Grab von Georg Cantor in Halle)

1) Neben Georg Cantor werden auf den Seitenflächen des Quaders noch der Romanist Viktor Klemperer (1881-1960), der Chemiker Georg Ernst Stahl (1660-1734) und der Altertumswissenschaftler Friedrich August Wolf (1759-1824) gewürdigt.
Zu G. Cantor sind Name, Berufsbezeichnung und Lebensdaten sowie der Hinweis „Begründer der Mengenlehre“ zu lesen. Ferner ist symbolisch das 1. Diagonalverfahren zum Nachweis der gleichen Mächtigkeit der natürlichen und der rationalen Zahlen wie auch die Formel c = 20 für die Mächtigkeit der reellen Zahlen ausgearbeitet. Letztlich ist auch das Zitat, das am Ende des ersten Absatzes wiedergegeben ist, verkürzt – das heißt ohne das Wort „gerade“ –, wiedergegeben.
2) Die Inschrift der Gedenktafel lautet:
In diesem Gebäude wohnte // von 1886 bis 1918 // Georg Cantor // Professor für Mathematik // an der Universität Halle – Wittenberg // Begründer der Mengenlehre.