Mathematiker des Monats Juni 2017
Kurt Hensel (1861-1941)
von Peter Ullrich
 
Kurt Hensel
Kurt Hensel
 

Leben

Kurt Wilhelm Sebastian Hensel wurde am 29. Dezember 1861 in eine Famile geboren, die bereits Bedeutendes zu Musik und Philosophie beigetragen hatte: Fanny Mendelssohn-Bartholdy (1805–1847) war seine Großmutter väterlicherseits, demgemäß Felix Mendelssohn-Bartholdy (1809–1847) sein Großonkel und Moses Mendelssohn (1729–1786) sein Ur-Ur-Großvater.
Aber auch die Mathematik war dieser Familie nicht fremd: Sebastian Hensel (1830–1898), Kurts Vater, hatte nach dem frühen Tod seiner Mutter Fanny mehrere Jahre bei deren jüngerer Schwester Rebecka (1811–1858) und ihrem Mann verbracht, Peter Gustav Lejeune-Dirichlet (1805–1859). Und eine Cousine von Fanny und Felix Mendelssohn-Bartholdy, Ottilie Mendelssohn (1819–1848), heiratete Ernst Eduard Kummer (1810–1893). Deren gemeinsame Tochter Marie Elisabeth (1842–1921) wiederum heiratete Hermann Amandus Schwarz (1843–1921).
Stammbaum der Familie Mendelsohn (Ausschnitt)
Ausschnitt des Stammbaums der Familie Moses Mendelsohn, wo Kurt Hensel aufgeführt ist. In der früheren Trauerhalle auf dem Dreifaltigkeitskirchhof in Berlin-Kreuzberg ist eine Dauerausstellung zur Familie Mendelsohn zu sehen.
 
Sebastian Hensel verfügte über genügend Geld, auch durch das Erbe von seinem Vater, dem erfolgreichen Kunstmaler Wilhelm Hensel (1794–1861), um das Rittergut Groß-Barthen in der Nähe von Königsberg (Ostpreußen) zu kaufen, auf dem er mit seiner Frau Julia, genannt Julie, geb. von Adelsson (1836–1901) und den Kindern Fanny (1857–1891), Cécile (1858–1928), Paul (1860–1930), Kurt und Lilly (1864–1948) lebte. Dort verfasste Sebastian auch das (immer noch aufgelegte) Buch über „Die Familie Mendelssohn, 1729-1847: nach Briefen und Tagebüchern“.
Die Lage von Groß-Barthen in der Pregelniederung führte allerdings zu gesundheitlichen Problemen in der Familie. Als Kurt neun Jahre alt war, wurde daher das Gut verkauft, und die Familie zog nach Berlin, wo Sebastian Hensel als Direktor einer Baugesellschaft wirkte.
Nach seinem Abitur am Friedrich-Wilhelm-Gymnasium im Jahre 1880 studierte Kurt Hensel zunächst drei Semester lang im Wechsel an den Universitäten in Bonn und Berlin, bis er ab dem vierten Studiensemester an der Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin blieb. Dort hörte er unter anderem bei Karl Weierstraß (1815–1897).
Hensels eigentlicher akademischer Lehrer aber war Leopold Kronecker (1823–1891), bei dem er am 24.März 1884 mit der Dissertation „Arithmetische Untersuchungen über Discriminanten und ihre ausserwesentlichen Teiler“ promoviert wurde, also mit einem Thema aus der algebraischen Zahlentheorie. Nach einem Zwischenspiel als Einjährig-Freiwilliger habilitierte er sich 1886 an der Universität zu Berlin und wurde dort Privatdozent, 1891 auch außerordentlicher Professor.
Kronecker starb überraschend am 29. Dezember 1891 (ausgerechnet dem 30. Geburtstag Hensels). Hierdurch wurde die Spannung, die zwischen Kronecker und Weierstraß seit Jahren bestanden hatte, auf unerwartete Weise aufgelöst. Es war aber keinesfalls so, dass Hensel sich nun plötzlich auf der falschen Seite wiederfand: Seine Beziehungen zu Weierstraß waren immer unproblematisch gewesen, und so besuchte er ihn auch bis zu dessen Tod einmal in jeder Woche. Von 1895 bis 1903 (sowie von 1929 bis 1931) gab er aber auch die „Werke“ seines Lehrers Kronecker heraus.
Hensels ausgleichendes Wesen kommt auch in der Antwort zum Ausdruck, die er angeblich immer gab, wenn von ihm eigentlich ein negatives Urteil über eine dritte Person erwartet wurde:
„Ich kenne ihn noch nicht gut genug.“
Allerdings konnte er auch – geistvoll – deutlich werden: Die Situation unter den Göttinger Mathematikern in den Jahren 1886 bis 1892 kommentierte er wie folgt:
„Ach, die sind alle Klein und Schwarz
und können einander nicht leiden.“
Im Jahr 1901 erhielt Hensel den Ruf auf ein Ordinariat der Universität Marburg, dem er 1902 folgte und wo er auch trotz weiterer Rufe für den Rest seines Lebens blieb.
Angeblich musste Hensel deshalb so lange auf eine Berufung warten, weil Friedrich Althoff (1839–1908), der maßgebliche preußische Ministerialbeamte, der Meinung war, aufgrund Hensels komfortabler Vermögenssituation könne dieser ruhig noch etwas länger Privatdozent bzw. außerordentlicher Professor in Berlin bleiben; freiwerdende Stellen sollten primär mit Kandidaten besetzt werden, die das Professorengehalt wirklich benötigten. Falls dies in der Tat Althoffs Hintergedanke gewesen war, kann man ihm nicht völlig widersprechen, wenn man sich die Villa, um nicht zu sagen: das Palais, ansieht, das Hensel für seine Familie auf dem Marburger Schlossberg bauen ließ und das seit 1952 das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung beherbergt, heutzutage insbesondere dessen Direktion. Im zugehörigen Garten befand sich ein Gartenhaus, welches Hensel als Arbeitsstätte diente. Schüttelreimend beschrieb er das Resultat wie folgt:
„In meinem kleinen Gartenhaus
bezwing ich selbst den harten Gauß.“
Von 1903 bis 1936 war Hensel Herausgeber des Journals für die reine und angewandte Mathematik, in dem auch zahlreiche seiner Arbeiten erschienen und das einige Zeit zuvor von seinem akademischen Lehrer Kronecker herausgegeben worden war. Im Jahr 1917 war Hensel Vorsitzender der Deutschen Mathematiker-Vereinigung. 1930 wurde er emeritiert, hielt aber danach zunächst auch noch einige Vorlesungen.
Selbst, wenn bereits alle Enkel von Moses Mendelssohn zum Protestantismus konvertiert waren, unterlagen Kurt Hensel und seine Familie den ab 1933 ständig zunehmenden Repressionen gegen die vom Regime als „Juden“ klassifizierten Personen. Zwar griff das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ bei ihm als bereits emeritierten „Altbeamten“ gar nicht, und es ist auch nicht klar, ob er von der Streichung seiner Mitgliedschaft in der Leopoldina Kenntnis erhielt. Dennoch waren Hensels letzte Jahre von ständigen Sorgen geprägt. Am 1. Juni 1941 verstarb er in Marburg an einem Herzinfarkt.

Werk

Hensels wirkmächtigster Beitrag zur Mathematik war seine Einführung der p-adischen Zahlen. Hierbei verband er Ideen seines akademischen Lehrers Kronecker mit denen von Weierstraß:
Einerseits hatte Kronecker festgestellt, dass im Bereich der ganzen Zahlen und ihrer Verallgemeinerungen, also für algebraische Zahlkörper, die Primzahlen p eine vergleichbare Rolle spielen wie die Linearfaktoren zc (bzw. 1/z) im Bereich der Polynome und ihrer Verallgemeinerungen, also für algebraische Funktionenkörper. Andererseits hatte Weierstraß Methoden entwickelt, mittels derer sich Informationen über Funktionen als globales Ganzes gewinnen lassen, indem man deren lokale Entwicklungen in Potenzreihen
Potenzreihe
für beliebige Entwicklungspunkte c betrachtet.
Hensel war nun kühn genug zu versuchen, diese Ergebnisse von Funktionen auf Zahlen zu übertragen: Um Informationen über eine Zahl zu gewinnen, sollte man deren Entwicklungen
Primzahlentwicklung
für beliebige Primzahlen p betrachten.
Allerdings war zunächst überhaupt nicht klar, was solche Potenzreihen, die Hensel „p-adische Zahlen“ nannte, eigentlich sein und in welchem Sinne etwa sie konvergieren sollten. André Weil (1906–1998) beschreibt das gesamte Umfeld von notwendigen Voraussetzungen für diesen Schritt wie folgt:
“Of course he [= Kummer] never introduced the concept of p-adic fields; the credit for this goes to his pupil, or rather his pupil's [= Kronecker's] pupil Hensel. Perhaps this concept could only occur to someone like Hensel, who had also been Weierstrass's pupil and who was familiar, not only with Cantor's definition of the real numbers, but with the ideas of Dedekind and Weber on the analogies between number-fields and function-fields.”
Demgemäß verwendete Hensel einen Großteil seiner Publikationstätigkeit seit 1897 darauf, seine zunächst sehr vage Idee zu konkretisieren und erste Ergebnisse über die p-adischen Zahlen zu beweisen. Eines der von ihm dabei gefundenen Resultate war das heute so genannte Henselsche Lemma über die Faktorisierung von Polynomen.
Allgemeine Akzeptanz in der Mathematik erhielten die p-adischen Zahlen allerdings erst, als es Hensels Doktorschüler Helmut Hasse, (1898–1979) 1921 in seiner Dissertation gelang, das von Hensel als Leitlinie „erahnte“ Lokal-Global-Prinzip (=„Aus den lokalen Entwicklungen kann man globale Aussagen gewinnen.“) für quadratische Formen über den rationalen Zahlen zu beweisen.
Mehr in Richtung der Theorie der algebraischen Funktionen gerichtet war das umfangreiche Buch „Theorie der algebraischen Funktionen einer Variabeln“, das Hensel 1902 gemeinsam mit Georg Landsberg (1865–1912) veröffentlichte und das Richard Dedekind (1831–1916) zum fünfzigsten Doktorjubiläum gewidmet war. 1921 schloss Hensel dann seinen großen Bericht über die „Arithmetische Theorie der algebraischen Funktionen“ für die Encyklopädie der mathematischen Wissenschaften mit Einschluß ihrer Anwendungen ab.

Familie

Kurz nach seiner Habilitation, im Jahr 1887, heiratete Hensel Gertrud Hahn (1866–1954), Tochter des Industriellen Albert Hahn und Tante des Reformpädagogen Kurt Hahn (1886–1974). Aus der Ehe entsprangen vier Töchter und ein Sohn: Ruth (1888–?), Lili (1889–?), Marie (1890–?) und Charlotte (1896–1990) sowie Albert (1895–1933). Ruth heiratete den Juristen Franz Haymann (1874–1947); ihr Sohn Walter (jetzt:) Hayman (* 1926) wurde Mathematiker wie sein Großvater und arbeitet auf dem Gebiet der Funktionentheorie. Charlotte heiratete den Autor Werner Bergengruen (1892–1964).
Kurt Hensels Bruder Paul war Professor der Philosophie, ihre Schwester Lilly Schriftstellerin. Sie heiratete den Sohn Alard du Bois-Reymond (1860–1922) des Physiologen Emil du Bois-Reymond (1818–1896) – und damit einen Neffen des Mathematikers Paul du Bois-Reymond (1831–1889).

Ehrungen

Kurt Hensel wurde 1908 zum Mitglied der Leopoldina gewählt; 1929 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Oslo, und noch 1933 wurde er korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.
 

Referenzen

[1]   Helmut Hasse: Kurt Hensel zum Gedächtnis, Journal für die reine und angewandte Mathematik, 187 (1950), 1 - 13
[2]   Kurt Hensel (1861–1941) / Mathematiker, in: Marburger Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Hrsg. Ingeborg Schnack, Marburg 1977, Lebensbilder aus Hessen Bd. 1, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 35, 1
 

Bildnachweis

Porträt   siehe [2]
Stammbaum
(Ausschnitt)
  Wolfgang Volk, Berlin